Wer bereits im Recruiting gearbeitet hat, weiß, dass viele Prozesse in der Identifizierung, Anwerbung und Einstellung von qualifizierten Personen für eine bestimmte Position oder Rolle in einem Unternehmen oder einer Organisation sehr steril ablaufen. Der Mensch versteckt sich hinter E-Mails und digitalen Tools, die ihm dies ermöglichen. Mehr noch, der Mensch versteckt sich hinter selbst bestimmten Standards und Wortfloskeln.
Hier ein Beispiel eines Konzerns, welches ich vor einigen Tagen erhalten habe
Guten Tag Michael Egger,
wir möchten uns für Ihre Bewerbung und das damit verbundene Interesse an unserem Unternehmen sehr herzlich bedanken. Wir schätzen die Zeit und Mühe, die Sie in Ihre Bewerbung investiert haben. Nach Durchsicht aller Bewerbungen müssen wir Ihnen jedoch leider mitteilen, dass Sie für die Position ABC nicht in die engere Auswahl gekommen sind und wir daher auch keinen persönlichen Gesprächstermin anbieten können.
Gerne halten wir Ihre Unterlagen gemäß der Datenschutzverordnung (DSGVO) in Evidenz und melden uns, sobald wir Ihnen eine adäquate Position anbieten können.
Behalten auch Sie unsere Karriereseite im Blick und scheuen Sie sich nicht, sich erneut bei uns zu bewerben, sollten Sie eine Position entdecken, die für Sie interessant ist.
Bis dahin wünschen wir Ihnen weiterhin alles Gute und viel Erfolg.
Mit freundlichen Grüßen Ihr XYZ Recruiting-Team
Wer sich diese Mail durchgelesen hat, darf sich gerne selber fragen, glaubst du, dass
- dieser herzliche Dank ernst gemeint ist?
- ihr noch in Evidenz gehalten werden wollt?
- ihr auch auf der Karriereseite die nächsten Tage nochmals umschauen werdet?
- man euch wirklich alles Gute und viel Erfolg wünscht?
Eine Möglichkeit zur Rückfrage bestand nicht. Warum auch, wenn der persönliche Gesprächstermin schon nicht angeboten werden konnte. Immerhin wurde ich mit Michael Egger angesprochen. Warum Vor und Nachnamen? Weil das mit Herr und Frau so ein Ding ist bei automatisiert erstellen E-Mails. Daher, bevor der Wurm drin ist, einfach Vor- und Nachnamen und fertig. Was war die Entscheidungsgrundlage für diese Absage? Mein Lebenslauf. Was können wir wirklich aus einem Lebenslauf „herauslesen“? In Wahrheit wenig, in der einen subjektiven Wahrheit eine Menge.
Der Lebenslauf
Der Lebenslauf ist eine schriftliche Zusammenfassung der beruflichen und oft auch der schulischen Ausbildung sowie der beruflichen Erfahrungen einer Person. Er enthält typischerweise Informationen über die persönlichen Daten, die Ausbildung, die beruflichen Stationen, die erworbenen Qualifikationen, die Fähigkeiten und manchmal auch persönliche Interessen. Soweit so gut. Aber.
Ein Lebenslauf bietet eine Menge an Interpretationsspielraum, den wir aufgrund unserer eigenen Erfahrungen bewerten.
Da wir als Mensch unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, ist auch die Bewertung eines Lebenslaufes durchaus sehr unterschiedlich. Nur, weil jemand glaubt, aus einem Bildungshintergrund die erworbenen Qualifikationen herauslesen zu können, muss dies nicht so sein, da Wissen auch anders erworbene werden kann. Gleiches verhält sich mit Fertigkeiten und Kompetenzen. Nur, weil jemand etwas lange Zeit gemacht hat, heißt dies nicht im Umkehrschluss, dass dies auch zum einen in der Zukunft so sein muss und zum anderen ob dies auch immer passend war.
Ein Lebenslauf hat zudem keine Lücken, da das Leben per se keine Lücken hat. Wir hören schließlich nicht auf zu Atmen. Ein Mensch kann jedoch Entscheidungen getroffen haben, die Veränderungen bewirkt haben. Eine Kündigung kann zur Arbeitsuche geführt haben oder der Wunsch nach Weiterbildung zu Phasen einer Bildungskarenz oder ähnlichem. Was allerdings bei diesen Auszeiten nicht sein darf und dennoch zig Mal am Tag vorkommt, ist die subjektive Interpretation ohne Nachzufragen.
Es ist wichtig zu beachten, dass der Lebenslauf allein nicht alle Aspekte einer Person widerspiegelt. Persönliche Fähigkeiten, soziale Kompetenzen und andere qualitative Eigenschaften sind oft schwer in einem Lebenslauf zu erfassen.
Vorteile (Bias)
Die Bias ist groß. Vor allem dort, wo sie nicht hingehört. Meine persönlichen Highlights dazu sind mannigfaltig. Zu überqualifiziert, zu teuer, zu alt, zu geringe Verweildauer, ein Mann bis hin zum Punkt, dass mir womöglich langweilig werden könnte. Woher dies die Menschen im Recruiting alle gewusst haben? Aus meinem Lebenslauf! Woher ich das wie? Weil ich nachgefragt habe. Nicht immer im Recruiting, da dies mit noreply Mailadressen abgeschirmt oftmals gar möglich war.
Mensch stelle sich jetzt vor, im Recruiting würden mehr Gespräche stattfinden und die Mehrwerte und Kompetenzen erfragt werden, die eine Person noch zusätzlich zu einem Job mitbringt?
Seid doch froh, wenn sich Menschen bewerben, die mehr mitbringen, als erwartet!
Dies sind jedoch, wie sehr häufig vorkommend, Annahmen, die wir treffen, weil wir interpretieren. Wir haben ein Soll-Bild aufgrund der Bedarfsanalyse und der Stellenbeschreibung. Dann kommen noch die menschlichen Faktoren hinzu, wie Teamstruktur, der Vergleich zwischen seiner eigenen Berufsbiografie und der des anderen und die soziale Gewünschtheit. Dies alles wird mit dem scheinbaren Ist-Bild eines Bewerbenden aus seinem Lebenslauf verglichen. Eine Einordnung in Ja und Nein passiert dann meist sehr schnell.
Wir alle haben Vorurteile, ob wir wollen oder nicht, der Autor miteingeschlossen. Eine einfache Lösung dagegen ist eine einfache Frage: Ist dies wirklich so oder denke ich mir das nur?
Redet mehr miteinander
Im Recruiting wird zu wenig geredet. Spannenderweise habe ich beobachten können, dass dies Inhouse um einige stärker ausgeprägt ist als bei externen Anbietern wie Personalberatungen. Dies könnte so sein, da externe Anbieter „den Menschen“ am Ende des Tages auch an Unternehmen verkaufen wollen und damit dies bestmöglich passiert auch mit ihm reden und ein Profil dazu anlegen. Recruiting ist ein wichtiger Teil des People & Culture Management, ich weigere mich, von Ressourcen zu sprechen und spielt eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Erfolgs und der Leistungsfähigkeit eines Unternehmens. Warum reden Menschen im Recruiting dann so wenig mit Bewerbenden?