Sind Sie schon einmal von einer alten Dame arbeitslos erklärt worden? Ich schon. Zweimal sogar. Was für Vorurteile? Oder doch die Wahrheit? Wenn ja, welche? Was nun folgt, ist eine höchst persönliche Geschichte.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Das erste Mal, als ich die ältere Frau sah – wie alt Sie wirklich war, weiß ich nicht -, glaubte ich, dass es eine Mitstudierende ist, die in ihrer Pension Familienforschung betreiben wollte. Als Sie allerdings bei der Einführungsvorlesung vor über 400 jungen Menschen nach vorne trat, wurde Sie uns als Institutsvorständin Frau Prof. Dr. vorgestellt. Ich war damals 26 Jahre alt und studierte am zweiten Bildungsweg doch tatsächlich Geschichte. Holte Latein nach. Diese tote Sprache wolle ich eigentlich mit 15 Jahren, nach der fünften Klasse Gymnasium hinter mir lassen. Hic rideo ego (Hier lache ich). Zurück zur alten Dame.
Da stand Sie nun. Die Frau Professorin las von einem Zettel vor und sprach vor dem großen Auditorium. Seitdem weiß ich auch, warum es an Universitäten Vorlesung heißt. Sie war nicht die einzige Person, die das während des Studiums wörtlich nahm. Ihre kleine Rede beendete Sie schließlich mit den Worten: „Schön, dass Sie alle Geschichte studieren. Diejenigen, die auf Lehramt studieren. Es sieht gut aus. Diejenigen von ihnen, die auf Diplom studieren, sie müssen sich jetzt schon darauf einstellen, dass sie arbeitslos werden.“ Da saß ich auf dem unbequemen Sitz. Inmitten von vielen jungen Menschen, ein Selbsterhalterstipendium in der Tasche und als Leser:in können es vermutlich schon erahnen, als Student, der auf Diplom studierte.
Arbeitslos. Gute Aussichten. Vorurteile?
Nach der Aussage der alten Dame könnte man meinen, dass ich schlauer geworden bin und etwas Bodenständiges dazu studiert habe. Also studierte ich Betriebswirtschaftslehre nebenbei. Sicher ist sicher. Wobei. Auch das ist wieder eine ganz andere Story. Nach dem Studium der Geschichte, welches in sieben Semestern, weit unter Mindeststudienzeit, beendet wurde, starte ich ehrgeizig ein Doktoratsstudium der Wirtschaftsgeschichte. Erster Tag. 10 Menschen in einem Raum. Die Tür ging auf und eine alte Dame, dieselbe wie einige Jahre zuvor, kam herein und beendete ihre kurze Ansprache, diesmal ohne vorzulesen: „Danke, dass Sie sich für ein Doktoratsstudium entscheiden haben. Danke für ihr Engagement. Sie wissen, dass Sie danach arbeitslos sein werden.“
Da saß ich wieder da. Auf einem ebenso unbequemen Sessel. Eines war allerdings anderes. Ich stand auf und sagte zur alten Dame: „Frau Professorin, wie viele Studenten haben Sie eigentlich tatsächlich in die Arbeitslosigkeit geschickt?“ Sie lächelte und meinte trocken: „Sie wohl noch nicht.“ Danach hat sie mich immer freundlich gegrüßt, wenn wir uns am Gang getroffen haben. Am Ende habe ich mit einer Arbeit zu Biografieforschung erfolgreich promoviert und eine Ehrung des damaligen Bundespräsidenten Dr. Heinz Fischer dafür erhalten.
Warum erzähle ich diese Geschichte?
- Weil ich gerade in der HR-Welt bei Hiring Managern bzw. Führungskräften viel zu oft Vorurteile hinsichtlich der Ausbildung und darauf resultierenden subjektiven Annahmen wahrnehme.
- Weil der „Stallgeruch“ und „Seilschaften“ noch immer mehr zählen als Kompetenzen.
- Weil es noch immer zu wenige Führungskräfte gibt, die Mitarbeitende fördern und auch fordern.
- Weil Unternehmen im Recruiting noch immer trotz eines bleibenden Arbeitnehmer:innen-Marktes auf den Status-Quo setzen.
- Weil intrinsische Motivation zur beruflichen Veränderung intern in Unternehmen noch immer zu wenig Beachtung findet. Stichwort Retention.
Vorurteile sind auch nur Vorstellungen
Sie sind subjektive Wahrnehmungen einer Wirklichkeit. Der oder die ist so. Heißt im Recruiting einen Lebenslauf „erlesen“ und 15 Minuten Gespräch genügen, um einen geistigen Stempel aufzudrücken. Nein, es sind Annahmen, die wir rückschließend aufgrund unserer Erfahrungen tätigen. Wir sollten uns daher dessen immer bewusst sein, dass unsere Erfahrungen nicht die der anderen Person sein müssen. Nur, weil etwas immer so war, heißt dies nicht, dass es auch immer so bleiben muss. Sei es im Recruiting, der Organisation oder sonst einem Bereich. Ehrliche Reflexion schadet nie. Am besten damit bei sich selbst beginnen.